30. August 2017

Elder Care – Work and Care: ein brisantes Thema für Erwerbstätige

Wir werden älter und damit überschneiden sich auch die Generationen immer mehr. Mit der steigenden Lebenserwartung steigt auch die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Damit wird das Thema Elder Care auch für Arbeitnehmende und ihre Arbeitgeber/-innen immer bedeutsamer. Betreuungsaufgaben können sehr belastend werden und die Arbeitsleistung tangieren. Eine Betriebskultur, die gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung trägt und den Angestellten mit individuellen Angeboten unterstützend zur Seite steht, bringt auch einen wirtschaftlichen Nutzen.

Work and Care ist ein breitgefasster Begriff. Er schliesst alle Altersstufen ein und meint die Tagesbetreuung der Kinder während die Eltern einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Pflege von Kindern im eigenen Bett, die Familienbetreuung wenn zum Beispiel die Mutter ernsthaft erkrankt oder die Organisation von betagten, pflegebedürftigen Eltern. Letzteres, genannt Elder Care ist Thema dieses Artikels. Elder Care bezeichnet die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege.

Generationenwohnen ist erfreulicherweise immer häufiger ein Thema und gilt als Königsweg. Das Zusammenleben mit Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre ist oft eine Bereicherung für alle Beteiligten. Gleichzeitig haben in der Schweiz lebende Personen den grossen Wunsch zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung zu bleiben. Kein Problem, denn oft sind Menschen über 80 Jahre noch sehr fit. Doch kommt es zu chirurgischen Eingriffen, kann sich die Situation rasch ändern. Wir sind froh und erleichtert, dass unsere Mutter noch am Leben ist. Gerne begleiten wir sie zur benötigten Physiotherapie, zu Nachuntersuchungen und kümmern uns vor und nach der Arbeit um sie. Wir sind dankbar für Spitexdienste und fühlen uns entlastet durch Mahlzeitenservice etc. Doch solche Ereignisse können über Nacht vieles verändern, für Eltern und ihre erwachsenen Kinder, die oftmals erwerbstätig sind. Nach anfänglich grossem Engagement treten auf Dauer körperliche Beschwerden, emotionale Unausgeglichenheit und geistig-mentale Erschöpfung auf. Das soziale Umfeld leidet. Am Arbeitsplatz häufen sich die Fehler wegen Konzentrationsproblemen, die Produktivität sinkt, Fehlzeiten und Krankheitstage häufen sich.

Eine Studie des Bundesamts für Gesundheit schätzt, dass Angehörige im Jahr 2014 (BAG, Bericht des Bundesrates) Pflegearbeit im Wert von über 9,5 Milliarden Franken geleistet haben. 80% der Pflegebedürftigen wurden von Angehörigen betreut. Die Hochrechnungen gehen davon aus, dass der Anteil der älteren Bevölkerung (ab 65 Jahren) von aktuell 18 Prozent auf mehr als 26 Prozent im Jahre 2045 ansteigen wird (BFS, 2015). Die Nachfrage nach Betreuung und Pflege von Angehörigen wird in Zukunft noch zunehmen.

Oft reduzieren Betroffene ihr Arbeitspensum oder geben die Erwerbstätigkeit ganz auf um sich voll und ganz auf die Betreuung und Pflege ihrer Angehörigen zu konzentrieren. Die Unternehmen verlieren erfahrene, qualifizierte Mitarbeitende mit viel Knowhow. Dies führt zu zusätzlichen Kosten, denn neue fähige Kandidatinnen und Kandidaten müssen zuerst gefunden, eingearbeitet und geschult werden.

Trotzdem schätzen gemäss einer Untersuchung der Hochschule Luzern viele befragte Firmen ihre Betroffenheit als gering ein und verweisen auf die individuell gelösten Einzelfälle. Flächendeckende Konzepte die Arbeitszeitmodelle aufzeigen und Entlöhnungsmodelle zur Verfügung stellen fehlen. Eine längere, bezahlte Abwesenheit wurde schon mal von kantonalen Gerichten zugesprochen, allerdings basierend auf einer Rechtsunsicherheit.

 

Fünf Fragen an Frau Prof. Dr. Iren Bischofberger, Programmleiterin work & care bei Careum Forschung in Zürich:

Welche Relevanz hat das Thema «work & care» für die Unternehmen?
Vereinbarkeitsfreundlichkeit wird immer wichtiger in der betrieblichen Personalpolitik – um die Mitarbeitenden zu rekrutieren und zu halten. Männer und Frauen in jedem Erwerbsalter sind betroffen, nicht nur Frauen, bzw. Eltern mit kleinen gesunden Kindern. Der demographische Wandel, die geographische Mobilität von Familien und der medizinische Fortschritt mit mehr Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten machen nicht halt vor den Türen der Arbeitgebenden.

Welcher Nutzen ergibt sich für Unternehmen, die Mitarbeitende in «work & care» Anliegen unterstützen?
Es fördert eine offene Betriebskultur, denn «work & care» kann Mitarbeitende und auch Vorgesetzte mit kranken, verunfallten oder geburtsbehinderten Angehörigen treffen. Erwerbstätige mit „work & care“ Aufgaben sind oft sehr zuverlässig, und wenn sich ihre Situation eingespielt hat auch gut organisiert. Sie sind auch für neu betroffene Mitarbeitende hilfreiche Kontaktpersonen. Das Präsenzen- bzw. Absenzenmanagement wird besser, wenn Mitarbeitende eigene oder familiäre Gründe für die Abwesenheit angeben können.

Welche Unterstützungsangebote sind für die Betroffenen besonders hilfreich?
Es braucht zwei Ebenen: Unterstützung für Einzelne und Betriebskultur für Alle. Einzelne brauchen je nach Fortgang des Gesundheitszustands ihrer Nächsten rasche und/oder kontinuierliche Angebote, z.B. strukturierte Freistellung mit Standortgesprächen. Eine Betriebskultur ist unterstützend, wenn sie «work & care» als gesellschaftliche Realität akzeptiert und kommuniziert. Zudem sollten vor allem. grössere Betriebe überprüfen, ob ihre Angebote wirklich nützen. Das ist mit einer betrieblichen Umfrage bei Mitarbeitenden möglich, bei der die Inanspruchnahme bestehender oder der Wunsch nach anderen Angeboten erfragt wird (siehe www.workandcare.ch/umfrage). Eine Umfrage ist erfahrungsgemäss auch eine gute Sensibilisierungskampagne, vor allem wenn parallel zur Umfrage eine Hotline beim Human Resources läuft.

Wie steht es um die gesetzlichen Grundlagen der Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenbetreuung?
Der Bundesrat verabschiedete 2014 eine Situationsanalyse und einen Aktionsplan zur Angehörigenbetreuung. Dieses Dokument stammt nicht nur von Gesundheitsminister Alain Berset, sondern vom Gesamtbundesrat. Das ist bemerkenswert. Darin werden auch gesetzliche Bestimmungen geprüft. Wir werden wohl nicht darum herum kommen, dass es analog zum Mutterschaftsurlaub auch einen Angehörigenurlaub gibt. Denn derselbe Bundesrat will in der Fachkräfteinitiative die Erwerbsquote erhöhen – gerade auch von Frauen. Entsprechend können sie – und auch die Männer – aber weniger Angehörige betreuen. Auch mehr Pflegeheimeintritte sind keine Option, da Gemeinden und Kantone die hohen Kosten scheuen. Es braucht also einen klugen Care-Mix, an dem sich auch die Arbeitswelt beteiligt – mit und ohne Gesetze.

Als Forscherin; wie wird sich das Thema «work & care» in den nächsten 20 Jahren entwickeln?
Basierend auf dem Aktionsplan und der Fachkräfteinitiative-Plus lancierte das BAG das Förderprogramm «Entlastung von pflegenden Angehörigen 2017-2020». Darin werden 12 Forschungsprojekte durchgeführt, vier davon explizit zu «work & care». Gute Beispiele aus der Praxis werden ebenfalls systematisch erhoben. Dieses Programm gibt «work & care» viel Schub. Was noch fehlt sind Begleitforschungsprojekte bei Arbeitgebenden, z.B. was Massnahmen von www.familienservice.ch oder www.profawo.ch in Betrieben bewirken. Oder wie z.B. Firmen wie AXA Winterthur, die schon länger alle Formen von Vereinbarkeit unterstützen, bei „work & care“ Fortschritte machen. Schliesslich wissen wir noch wenig, wie die Gesundheitsversorgung die «work & care» Situation berücksichtigt, denn traditionell erwarten Fachpersonen im Gesundheitswesen von den Angehörigen Präsenz am Krankenbett. Was aber, wenn die Angehörigen weit weg wohnen? Hier greifen wir neu das Thema „Distance Caregiving – Hilfe und Pflege aus Distanz auf.

Tipps für Unternehmen

Nebst einer unterstützenden Betriebskultur können folgende Massnahmen für Ihre Mitarbeitenden hilfreich sein.

1. Mobiles Arbeiten
«Home Office» schafft viel Flexibilität und Entlastung für Elder Care, da Arzt- und Behördengänge mehrheitlich nur tagsüber möglich sind. Dabei zählt das Arbeitsergebnis und nicht die Anwesenheit am Arbeitsplatz. Das Vertrauen in die Mitarbeitenden gilt als Grundlage für diese Vereinbarung.

2. Flexible Arbeitszeiten
Nebst Jobsharing und Reduktion des Arbeitspensums oder kurzfristiger Freistellung können auch Rahmenarbeitszeiten vereinbart werden. Dabei geht es um die flexible Arbeitszeitgestaltung innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Damit können die pflegenden Mitarbeitenden ihren Alltag besser organisieren.

3. Arbeitszeitorganisation
Auch bei Abwesenheit von pflegenden Mitarbeitenden müssen die Abläufe und Arbeitsprozesse weiterlaufen. Die detaillierte Absprache im Team ist sehr wichtig und Kommunikationsregeln und Dokumentationsprozesse müssen vorgängig definiert sowie die Vertretungs- und Übergaberegelungen geklärt werden. So kann auch eine kurzfristige Absenz ohne Probleme aufgefangen werden.

4. Wissensmanagement
Veröffentlichen Sie individuelle und betriebsübergreifende Informationen zum Thema Elder Care auf allen internen Kommunikationskanälen. Kurse und Vorträge im Unternehmen ermöglichen es den Mitarbeitenden und den Vorgesetzten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und ein besseres Verständnis für die Situation zu entwickeln. Die Beratung und Vermittlung von Pflegeinstitutionen helfen den Betroffenen bei der Organisation von Elder Care.

5. Mitarbeitendengespräch
Setzen Sie sich als Vorgesetzter für Ihre Mitarbeitenden mit Elder Care Aufgaben ein. Achten Sie darauf, dass Sie die Weiterbildung und Aufstiegsmöglichkeiten für alle Mitarbeitenden im Unternehmen gleich fördern. Helfen Sie den betroffenen Mitarbeitenden ihr Zeitmanagement zu verbessern und bringen Sie die erworbenen sozialen Kompetenzen im Mitarbeitendengespräch mit ein.

6. Ansprechpartner/-in
Mitarbeitende mit Pflegeaufgaben sind mehrfach belastet und möchten sich möglicherweise im Gespräch jemandem anvertrauen. Die Berater/-innen von Proitera führen oft solche Gespräche und helfen, die belastenden Themen wie Schuldgefühle und Vermächtnisse zu bearbeiten. 

Tipps für Betroffene

1. Die persönliche Situation analysieren
Welches sind Ihre eignen Bedürfnisse um gesund und ausgeglichen zu bleiben? In welchem Bereich brauchen Sie Unterstützung? Gibt es unterschiedliche Arbeitsmodelle im Betrieb? Sich informieren: Das Internet biete eine Fülle von relevanten Informationen zum Thema Elder Care. Erkundigen Sie sich über die Möglichkeiten, die Ihr/-e Arbeitgeber/-in anbietet. Wenden Sie sich dazu an das HR.

2. Den Dialog suchen
Machen Sie eine Auslegeordnung bei der Betrieblichen Sozialberatung Proitera und bereiten Sie sich sorgfältig auf eine klärendes Gespräch mit den Vorgesetzten oder dem HR vor.

3. Die Situation managen
Machen Sie in Gesprächen mit der Spitex, im Pflegeheim, in der Rehaklinik oder im Spital darauf aufmerksam, dass Sie berufstätig sind und Sie nicht immer vor Ort sein können.

4. Erreichbarkeit
Zeigen Sie Möglichkeiten der raschen Kommunikation auf, sodass Sie Ihren Beitrag zur Begleitung und Betreuung gezielt leisten können.

5. Gesund bleiben
Sie brauchen Freiräume und haben ein Recht darauf! Zögern Sie nicht, suchen Sie eine unbefangene Anlaufstelle auf. Reden Sie über Ihre aktuelle Situation und die damit verbundenen, vielfältigen Belastungen. Grosse Firmen verfügen vielfach über eine interne Betriebliche Sozialberatung. Immer mehr KMU’s sind mit externen Sozialberatungen unter Vertrag.

Unser Video mit Herrn Flury schildert eindrücklich die Situation von Work and Care am Beispiel Elder Care und die damit einhergehende Mehrfachbelastung. Doch gelingt die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung, können Unternehmen meist auf motivierte loyale Mitarbeitende zählen.

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