12. December 2024

Präsentismus: Wenn falsches Pflichtgefühl mehr schadet als nützt

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Eine aktuelle Studie eines Schweizer Versicherungsunternehmens in Zusammenarbeit mit der Berner Fachhochschule zeigt: 52 Prozent der Befragten praktizieren in unterschiedlichem Masse Präsentismus. Bei diesen Beschwerden gehen Beschäftigte am häufigsten weiter ihrer Tätigkeit nach:

1. Rückenschmerzen
2. Beschwerden aufgrund von Allergien
3. psychosomatischen oder psychischen Beschwerden
4. leichten Erkrankungen
5. ansteckenden Infekten
6. Atemwegserkrankungen
7. Verletzungen des Bewegungsapparates

Wer krank arbeitet, kann sich nicht richtig konzentrieren und macht Fehler. Das beeinflusst sowohl die Qualität des Arbeitsalltags als auch die Arbeitsleistung negativ. Zudem erhöht Präsentismus das Sicherheitsrisiko, insbesondere in Berufen mit Maschinen oder gefährlichen Tätigkeiten.

Präsentismus kann bei Mitarbeitenden bestehende, gesundheitliche Beeinträchtigungen verschlimmern. Langfristig verzögert unzureichende Erholung die Genesung und kann zu chronischen oder psychischen Erkrankungen führen.

Im schlimmsten Fall resultiert daraus die vollständige Arbeitsunfähigkeit. Kranke Mitarbeitende können am Arbeitsplatz andere anstecken, was zu zusätzlichen Ausfällen führt. Gerade Mitarbeitende in kundenorientierten Berufen, wie dem Gesundheitswesen oder der Gastronomie, gefährden ausserdem die Gesundheit von Patienten sowie von Kundinnen und Kunden, wenn sie trotz Krankheit arbeiten.

Steigende Kosten für Unternehmen entstehen jedoch nicht nur durch die tatsächlichen Fehlzeiten, sondern auch durch anwesende Mitarbeitende, die aufgrund von Präsentismus weniger produktiv sind und/oder die Arbeit in verminderter Qualität leisten.

Laut Angaben von Gesundheitsförderung Schweiz belaufen sich die Kosten, die durch Präsentismus anfallen, in der Schweiz jährlich auf bis zu fünf Milliarden Franken.

Gründe für Präsentismus

Präsentismus entsteht aus einem individuellen Entscheidungsprozess, der durch eine Vielzahl persönlicher, arbeitsbezogener und gesellschaftlicher Einflüsse geprägt wird. Zu den am häufigsten genannten Gründen gehören:

Stress und Zeitdruck: Mitarbeitende die das Gefühl haben, ständig unter Zeitdruck zu stehen und/oder hohe Erwartungen erfüllen zu müssen, entscheiden sich oft dafür auch krank zur Arbeit zu kommen.

Arbeitsplatzunsicherheit: In wirtschaftlich unsicheren Zeiten oder in Branchen mit hohem Konkurrenzdruck fühlen sich viele Arbeitnehmende gezwungen, ihre Einsatzbereitschaft durch Anwesenheit zu beweisen, selbst wenn sie krank sind.

Fehlende Vertretung: In kleinen Teams oder bei spezialisierten Tätigkeiten gibt es oft niemanden, der die Arbeit der kranken Person übernehmen kann. Dies führt zu einem Gefühl der Unentbehrlichkeit und dem Druck, trotz Krankheit arbeiten zu müssen.

Unternehmenskultur: Eine Unternehmenskultur, die hohe Arbeitsbelastung und permanente Erreichbarkeit idealisiert, kann Präsentismus begünstigen. Mitarbeitende fühlen sich oft dazu verpflichtet, ihre Präsenz zu zeigen, um als engagiert wahrgenommen zu werden – selbst, wenn dies ihre Gesundheit beeinträchtigt.

Pflichtgefühl: Ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Arbeit, dem Team oder dem Unternehmen kann Mitarbeitende dazu bewegen, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen.

Fehlendes Bewusstsein: Die negativen Auswirkungen von Krankheit auf die eigene Produktivität und Gesundheit werden oft unterschätzt. Viele Arbeitnehmende glauben fälschlicherweise, dass ihre Anwesenheit trotz gesundheitlicher Beschwerden besser ist als ihre Abwesenheit.

Abgrenzungsschwierigkeiten: Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale fördern Präsentismus. Menschen, die Schwierigkeiten haben, „Nein“ zu sagen, Grenzen zu setzen oder sich von Erwartungen abzugrenzen, sind besonders gefährdet. Lesen Sie dazu mehr in unserem aktuellen Whitepaper.

Finanzielle Sorgen: Fehlende oder unzureichende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kann dazu führen, dass Arbeitnehmende aus finanzieller Not auch krank zur Arbeit erscheinen.

Kompetent die eigene Gesundheit managen

Die Arbeitswelt hat sich so verändert, dass Angestellte mehr Gestaltungsspielraum haben, aber auch mehr Eigenverantwortung von ihnen erwartet wird. Arbeitnehmende und insbesondere Berufseinsteiger/-innen stehen vor der Herausforderung, Gesundheitskompetenzen zu entwickeln. Dazu gehört auch, einschätzen zu können, wann eine Krankmeldung sinnvoll ist und wann nicht.

Immer öfter sind angestellte Arbeitnehmende dazu angehalten, wie Unternehmer im eigenen Unternehmen zu denken: Anstelle von hierarchischen Vorgaben treten Projektziele, die es zu erreichen gilt. Das Arbeitstempo, um diese Ziele zu erreichen, ist hoch und die Gesundheit spielt dabei oft eine untergeordnete Rolle. Im Rahmen der Fürsorgepflicht und auch im Interesse des Unternehmens, sollte dieser Entwicklung entgegengewirkt werden.

Das können Arbeitnehmende tun

  • Geben Sie die Verantwortung für Ihre Arbeit ab und nehmen Sie die Verantwortung für sich und Ihre Gesundheit wahr: Kranksein ist keine Schande!
  • Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem/Ihrer Vorgesetzten, einer Vertrauensperson im Betrieb oder der externen betrieblichen Sozialberatung, wenn Ihnen die Arbeit über den Kopf wächst.
  • Achten Sie auch auf Ihre Kolleginnen und Kollegen und sprechen Sie diese an, falls sie krank arbeiten.
  • Schaffen Sie klare Stellvertreter-Regelungen und kommunizieren Sie diese transparent im Team.
  • Sensibilisieren Sie Ihr Umfeld und Ihre Führungskraft für Präsentismus und dessen Folgen.
  • Verzichten Sie darauf, Medikamente einzunehmen, die lediglich Symptome unterdrücken oder Ihre Leistungsfähigkeit steigern. Diese können den Heilungsprozess verzögern und erhöhen das Risiko einer Abhängigkeit.
  • Überlegen Sie sich, ob Sie mit Ihrem Verhalten, krank zur Arbeit zu gehen, Ihre Kollegen gefährden.

Als Führungskraft mit Vorbildfunktion ist es wichtig, das eigene Gesundheitsverhalten zu hinterfragen. Denn welcher Mitarbeitende wird sich schon krankmelden, wenn der/die Vorgesetzte trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen weiterhin arbeitet?

Das können Arbeitgebende tun

Identifizieren Sie Risikopersonen: Achten Sie auf Mitarbeitende, die trotz Erkältungssymptomen oder Müdigkeit arbeiten, oder darauf, wie häufig jemand trotz Krankmeldung arbeitet. Führen Sie offene Gespräche, in denen Sie das Wohlbefinden und die Arbeitsbelastung thematisieren.

Aufklärung und Kommunikation: Informieren Sie über die Auswirkungen von Präsentismus und sensibilisieren Sie Führungskräfte für die Bedeutung von Gesundheit sowie einer ausgewogenen Work-Life-Balance. Die Reaktion von Führungskräften auf Krankmeldungen ist entscheidend dafür, ob Präsentismus im Unternehmen gefördert oder vermieden wird. Eine offene Kommunikation trägt dazu bei, ein Umfeld zu schaffen, in dem Mitarbeitende sich sicher fühlen, um ihre gesundheitlichen Probleme anzusprechen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement: Ein effektives Betriebliches Gesundheitsmanagement sensibilisiert Führungskräfte und Mitarbeitende für die Risiken von Präsentismus. Es schafft überdies die Rahmenbedingungen für gesundheitsfördernde Massnahmen und Angebote am Arbeitsplatz. Dazu gehören präventive Massnahmen wie zum Beispiel Workshops zum Thema Stressmanagement, klare Vertretungsregelungen und weitere Angebote, die das Wohlbefinden und die Gesundheit der Belegschaft stärken.

Wertschätzung der Mitarbeitenden: Eine unterstützende, wertschätzende Unternehmenskultur ist entscheidend zur Verringerung von Präsentismus. Sorgen Sie dafür, dass sich Mitarbeitende nicht ständig beweisen müssen, sondern dass ihre Arbeit und ihre Person unabhängig von erbrachten Leistungen wertgeschätzt werden.

Kultur der Achtsamkeit statt der Anwesenheit: Kommunizieren Sie in Meetings, E-Mails oder Rundschreiben, dass Gesundheit und Wohlbefinden wichtiger sind als physische Präsenz. Betonen Sie, dass Mitarbeitende Verantwortung für ihre Grenzen und Gesundheit übernehmen dürfen.

Die Betriebliche Sozialberatung als Bindeglied

Im Zusammenhang mit Präsentismus wirft die betriebliche Sozialarbeit eine Reihe von Fragen auf, die helfen, das Thema besser zu verstehen und Lösungen zu entwickeln:

  • Sind die Mitarbeitenden gefordert, aber nicht überfordert?
  • Bekommen die Mitarbeitenden die nötige Wertschätzung?
  • Haben die Mitarbeitenden die erforderliche Sensibilität für ihre eigene Gesundheit?
  • Wird klar und transparent kommuniziert, welche Erwartungen bezüglich Präsenzzeiten und Krankmeldungen bestehen?
  • Wird die Bedeutung von Erholung und Selbstfürsorge aktiv im Unternehmen gefördert?
  • Wie wird das Thema Präsentismus in der Unternehmenskultur behandelt?
  • Welche präventiven Massnahmen sind vorhanden, um den Mitarbeitenden zu helfen, Überlastung frühzeitig zu erkennen?
  • Wie kann die Arbeitsorganisation so gestaltet werden, dass Mitarbeitende bei Bedarf flexibel arbeiten können?
  • Gibt es Massnahmen, um das Stigma von Krankheitsausfällen abzubauen und ein gesundheitsförderndes Arbeitsklima zu schaffen?

Die betriebliche Sozialberatung nimmt eine Schlüsselrolle bei der Prävention und Reduktion von Präsentismus ein. Sie informiert Mitarbeitende und Führungskräfte über die gesundheitlichen und betriebswirtschaftlichen Folgen dieses Verhaltens. Durch individuelle Beratung zu Themen wie Stressbewältigung, Abgrenzung und Work-Life-Balance bietet sie ausserdem gezielte Unterstützung, um Überlastung und Burnout vorzubeugen. Die frühzeitige Identifikation gefährdeter Mitarbeitender, ermöglicht eine rechtzeitige Entlastung dieser Personen. Zudem hilft die betriebliche Sozialberatung bei der Entwicklung nachhaltiger Massnahmen wie flexiblen Arbeitszeiten oder klarer Kommunikation zu Krankmeldungen, um Präsentismus im Unternehmen zu verringern. Diese Ansätze fördern das Wohlbefinden der Mitarbeitenden und verbessern langfristig sowohl die Produktivität als auch das Arbeitsklima.


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