5. Juli 2017

Psychische Leiden am Arbeitsplatz nicht tabuisieren

Jede sechste Person in der Schweiz ist psychisch angeschlagen im Sinne einer mittleren bis starken Beeinträchtigung. Wahrnehmbar ist diese nicht nur im privaten Umfeld; häufig erwachsen daraus auch am Arbeitsplatz erhebliche Probleme. Mitarbeitende, die psychisch krank sind oder in einer schweren seelischen Krise stecken, gibt es auf allen Hierarchiestufen. Eine Checkliste (s.u.) hilft Arbeitgeber/innen die Anzeichen einer psychischen Beeinträchtigung zu erkennen und ihr zu begegnen, bevor es zu Krise und Arbeitsausfall kommt.

Die WHO beschreibt psychische Gesundheit als „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen“ (WHO, 2001). Diese «Normalität» erreicht eine erstaunlich hohe Zahl nicht:

  • Jede 6. Person in der Schweiz ist durch psychische Belastungen mittel bis stark beeinträchtigt (BFS, 2012)
  • Jede 20. Person hat wegen einem psychischen Problem eine Behandlung beansprucht (BFS, 2012)
  • Jeder dritte Mensch erkrankt einmal in seinem Leben so schwer an einem seelischen Leiden, dass ein psychiatrische Behandlung nötig ist
  • Jede dritte IV-Rente ist durch einer psychische Krankheit begründet
  • Auf jeden Arbeitnehmer fallen pro Jahr 6 krankheitsbedingte Absenztage (BFS, 2014)

In den meisten Unternehmen finden sich auf allen Hierarchiestufen Mitarbeitende, die psychisch krank sind oder in einer schweren seelischen Krise mit Krankheitscharakter stecken. Vornehmlich Depressionen und Angsterkrankungen führen zu Absenzen, Frühverrentungen und Jobverlust. Und psychische Probleme können jeden treffen. Für Teams und Vorgesetzte sind die zwischenmenschlichen Komplikationen, die daraus entstehen können, oft belastender als etwa ungenügende Arbeitsleistung oder häufige Absenzen.

Was sind die Ursachen, was die Folgen?

Die Ursachen für diese Erkrankungen sind vielfältig und von komplexer Natur. Neben der eigenen individuellen Disposition gefährden zum Beispiel Stress und Überbelastung in der Arbeitswelt die psychische Gesundheit. Ebenso die Angst vor Arbeitsplatzverlust, nicht verarbeitete Traumen, manipulative Beziehungen, dramatische Unfälle oder andere einschneidende Erlebnisse. Viele der genannten Belastungsfaktoren sind auch für psychisch gesunde Menschen nicht immer leicht zu ertragen. Diese schaffen es jedoch besser, zu sich Sorge zu tragen und sich wieder selber aus dem emotionalen Tief zu holen. Weniger belastbare Menschen leiden doppelt: Psychische Beeinträchtigungen sind nach wie vor tabuisiert und haben Ausgrenzung und Stigmatisierung zur Folge. Sie führen zu erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität der Betroffenen und Angehörigen im sozialen Umfeld.

Seelische Probleme gehören für viele in die Privatsphäre und nicht an den Arbeitsplatz. Betroffene Menschen verschweigen deshalb häufig ihre psychischen Krisen und ihre Krankheit, sei es aus Scham oder aus Angst um ihren Arbeitsplatz. Sie wagen es nicht, das Gespräch mit Vorgesetzten zu suchen und sie um Entlastung zu bitten. Psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen und sich Hilfe zu holen, benötigt viel Überwindung. Die Betroffenen fühlen sich oft wertlos und denken, dass sie in der heutigen Leistungsgesellschaft keinen Platz mehr haben. Auch für die Mitarbeitenden ist die Situation belastend, wenn die Zusammenarbeit im Team nicht mehr klappt und die Einzelleistung nicht mehr stimmt.

Checkliste für Arbeitgeber/innen

Diese Checkliste hilft Ihnen, Anzeichen psychischer Problemen bei Ihren Mitarbeitenden früher zu erkennen und besser damit umzugehen. Es geht nicht darum, eine Diagnose zu stellen. Das kann nur von geschulten Psychologen/innen oder Psychiater/innen erfolgen. Je nach Erkrankung reagieren Betroffene auf zu eindringliches Vorgehen mit Rückzug oder mit Aggressivität.

Gefährdung einer Person erkennen

Arbeitsverhalten

  • Sie erbringt nicht mehr die gewohnte Leistung und/oder die Leistung schwankt deutlich
  • Sie ist nicht mehr belastbar und das Arbeitstempo verlangsamt sich
  • Sie vermeidet bestimme Aufgaben bewusst
  • Sie zeigt Konzentrationsschwächen, nachlassende Zuverlässigkeit und Unpünktlichkeit

Sozialverhalten

  • Sie reagiert mit Rückzug, übermässigem Misstrauen und übersteigerter Empfindlichkeit
  • Sie fühlt sich schnell angegriffen, kann nicht differenzieren und Kritik nicht annehmen
  • Sie kann sich selber nicht kritisch hinterfragen, die Wahrnehmung ist nicht mehr differenziert

Stimmungslage

  • Sie ist leicht reizbar, fühlt sich rasch angegriffen, ist verstärkt unsicher, aggressiv und niedergeschlagen
  • Sie ist oft angespannt und hat starke Stimmungsschwankungen

Sonstige Auffälligkeiten

  • Sie leidet unter Schlaflosigkeit und Erschöpfung
  • Sie vernachlässigt ihre Körperpflege
  • Sie kann nicht bei einem Gesprächsthema oder Gedanken bleiben

Gespräch suchen

  • Sprechen Sie die Person so früh wie möglich an.
  • Begegnen Sie ihr mit einer wertschätzenden Grundeinstellung.
  • Formulieren Sie Ihre Beobachtungen klar, konkret und ohne jegliche Bewertung.
  • Interpretieren Sie nicht und respektieren Sie ihre Sichtweise.
  • Zeigen Sie Interesse und Mitgefühl (‘Ich mache mir Sorgen.’) und bieten Sie ihr Unterstützung an (‘Was kann ich für Sie tun?’).
  • Nehmen Sie keine Konflikthaltung ein, wenn sie den Sachverhalt verneint und ihre Hilfe ablehnt. Teilen Sie ihr mit, dass Sie die Situation weiter beobachten und wieder auf sie zukommen werden.
  • Vereinbaren Sie nach einigen Wochen ein weiteres Gespräch.

Wenn es nicht besser wird …

  • Bereiten Sie sich auf ein weiteres Gespräch vor und machen Sie sich Ihre eigene Haltung und Erfahrung bewusst.
  • Konfrontieren Sie die Person mit Beobachtungen und Fakten.
  • Kommunizieren Sie klare Vorgaben und Erwartungen.
  • Erarbeiten Sie mit ihr gemeinsam konkrete Massnahmen.
  • Erklären Sie ihr, dass sie Anspruch auf Unterstützung hat und nicht alles alleine bewältigen muss.
  • Motivieren Sie sie, auf freiwilliger Basis Kontakt mit Proitera aufzunehmen oder überweisen Sie sie mit schriftlichem Auftrag an einen Proitera Standorte.

Unterstützende Massnahmen

  • Sprechen Sie als HR Person mit den Vorgesetzten und motivieren Sie diese, Mitarbeitende mit Beeinträchtigungen im Team zu halten.
  • Reduzieren Sie wenn möglich die Belastung für die Betroffenen.
  • Passen Sie die Arbeitszeiten und Aufgaben (Vorhersehbarkeit und Menge) an.
  • Organisieren Sie vermehrt Einzelarbeiten und weniger Planungsaufgaben.
  • Veranlassen Sie häufigere Kurzpausen und eine ruhigere Arbeitsumgebung.
  • Planen Sie regelmässiges kurzes Feedback ein.

Es kommt zu einem Krankheitsausfall

  • Halten Sie Kontakt zu den Mitarbeitenden.
  • Seien Sie transparent und nehmen Sie Verunsicherungen an.
  • Klären Sie die Möglichkeiten für eine Teilarbeitsfähigkeit ab.
  • Besprechen Sie gemeinsam, wie die Kommunikation im Team erfolgen soll.
  • Bleiben Sie flexibel und geduldig beim Wiedereinstieg der Betroffenen.

 


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