9. April 2024

Psychosoziale Notfallversorgung: So helfen wir Mitarbeitenden einen Schock zu verarbeiten

Herr P. ist Mitarbeiter der Firma Fritz Born AG in Langenthal. Er und seine Frau sind beide erfahrene und gut ausgebildete Motorradfahrer. Zu Beginn der gemeinsamen Ferien planen sie an einem schönen Tag eine «Töff-Tour» mit ihrem Motorrad, Frau P. nimmt als Mitfahrerin hinter ihrem Mann Platz. Auf der Tour fährt das Ehepaar hinter einem sehr langsamen und unsicher fahrenden Auto.

Als Herr P. zum Überholmanöver ansetzt, biegt das Auto jedoch ohne zu blinken links ab.

Herr P. versucht noch zu bremsen, doch das Motorrad gerät ins Schleudern. Er und seine Frau stürzen vom Motorrad. Während für Herrn P. der Unfall glimpflich verläuft, wird seine Frau stark verletzt und muss mit dem Helikopter ins Spital gebracht werden.

Traumatische Ereignisse

Nach den Ferien kehrt Herr P. an den Arbeitsplatz zurück. Allerdings spürt er bald, dass er den Schock des Unfalls noch nicht überwunden hat. Händezittern, Schlafstörungen, starkes Schwitzen und die anhaltendende Angst vor einer drohenden Gefahr plagen ihn nicht nur privat, sondern auch am Arbeitsplatz.

Schockereignisse

Etwa zehn Tage nach dem Unfall meldet sich Herr P. auf Anraten seiner Vorgesetzten bei Proitera. Marianne Weber, Beraterin und Sozialarbeiterin in Bern, übernimmt den Fall. Sie ist geschult in den Bereichen Psychosoziale Notfallversorgung und Debriefing. Seit dem Unfall trauen sich beide nur noch ungern in den Strassenverkehr und sind in ihrer Mobilität erheblich eingeschränkt.

Stressabbau dank Debriefing

Im Vorgespräch gilt es zu klären, ob ein Debriefing die richtige Methode ist oder ob allenfalls eine Triage zur Opferhilfe oder zur Traumatherapie zielführender ist. Was ein Debriefing bedeutet, wird den Klienten vorgängig erklärt. Denn der bewusste Entscheid für diese Methode und das Einverständnis der betroffenen Person, sind entscheidend für die Wirksamkeit eines Debriefings.

Die Psychosoziale Notfallversorgung

Ist die Gesamtheit aller Aktionen und Vorkehrungen, die getroffen werden, um Betroffenen im Bereich der psychosozialen Be- und Verarbeitung von Belastungen zu helfen.

Das Debriefing

Ist eine Beratungsmethode beziehungsweise eine standardisierte Kurzintervention, die im unmittelbaren Anschluss an das traumatische Erlebnis angeboten wird. Es bedarf dazu einer Sitzung. Die Betroffenen sollen dabei nicht vergessen, sondern verarbeiten. Sie werden in einem strukturierten Gespräch – basierend auf neusten Erkenntnissen der Hirnforschung – unterstützt, das Ereignis zuerst kognitiv und anschliessend emotional zu verarbeiten.

Quelle: DGUV – Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung

Mit Herrn P. sowie mit Frau P. wird je ein individuelles Debriefing durchgeführt.
Ziel ist es, in einer Sitzung die etwa zwei bis drei Stunden dauert, die verschiedenen Erlebnisebenen (Fakten, Gedanken, Emotionen) zu differenzieren.
So kann der Stress im autonomen Nervensystem abgebaut und die Wirkung in die Gegenwart (körperliche und psychische Symptome) gelindert werden.

Als erster erhält Herr P. ein Debriefing, das aus folgenden Phasen besteht:

Debriefing-Prozess nach Gisela Perren-Klingler

1. Einführung: Begrüssung und Einführung in den Ablauf des Debriefings.

2. Fakten: Das Ereignis wird kognitiv als rein faktischer Ereignisablauf aufgearbeitet. Gefühle werden in diesem Schritt nicht berücksichtigt. Ziel ist es, zu Beginn des Debriefings auf rationeller Ebene klarzustellen, wann die Gefahr des Ereignisses zu Ende war.

3. Gedanken: Die aktuellen Gedanken in Erinnerung an das Ereignis werden besprochen. So wird eruiert, welche Gedanken auf mentaler Ebene im «Heute» übermässig nachwirken. Diese Phase stellt den Übergang von der kognitiven zur emotionalen Ebene dar.

4. Emotionen: Schrittweise wird erarbeitet, welche Gefühle gegenwärtig aktiv sind sobald an das Ereignis gedacht wird. Es stehen die Fragen im Vordergrund: Welches Gefühl habe ich heute, wenn ich an die Situation denke? Was nehme ich dabei körperlich wahr? Die Gedanken, die daraus entstehenden Gefühle und die körperlichen Reaktionen werden beschrieben und in Verbindung mit den Ereignissen in der Vergangenheit gebracht.

5. Information: Diese Phase folgt nach der Hauptarbeit. Informationen zu destruktiven Verhaltensweisen, die sich möglicherweise seit dem Ereignis eingeschlichen haben, werden aufgezeigt – etwa Vermeidungsverhalten, gesteigerter Alkoholkonsum oder weniger Sozialkontakte. Wichtig ist die Normalisierung des Alltags, der sich aufgrund der natürlichen Stressreaktion ausgelöst durch das Schockerlebniss verändert hat. Es werden mögliche Stressbewältigungsstrategien besprochen und im künftigen Alltag eingeplant.

6. Ritual: Wie können Betroffene im Hier und Jetzt die Situation ganzheitlich bewältigen und abschliessen? Ein Ritual wird vereinbart, um das Geschehene abzuschliessen.

7. Abschluss: Der Wiedereintritt in das Hier und Jetzt wird vorgenommen: Das Geschehene wird zusammengefasst, Fragen werden beantwortet und ein Kontrolltermin vereinbart.

Quelle: „Debriefing“ in Diskussion

Pfeiler setzen gegen die Verunsicherung

Sechs bis acht Wochen nach dem Debriefing erfolgt ein zweiter Termin mit Herrn P. Marianne Weber fragt nach wie es ihm geht, was sich in der Zwischenzeit verändert hat und ob er das vereinbarte Ritual umsetzen konnte.

Sie stellt fest: Das Debriefing wirkt bei Herrn P. Die körperlichen Reaktionen wie Händezittern, Schlafstörungen, oder starkes Schwitzen haben merklich nachgelassen. Durch den besseren Schlaf fühlt sich Herr P. erholter und kann sich besser auf die Arbeit konzentrieren. Er fühlt sich zunehmend sicherer im Strassenverkehr. Herr P. weiss nun, dass das Ereignis in der Vergangenheit liegt und die Gefahr vorbei ist. Er hat gelernt, wie er Stressreaktionen entgegenwirken kann.

Fragen an Herrn P., Mitarbeiter bei Fritz Born AG

(Symbol Bild)

Welche Hilfestellung von Frau Weber während des Debriefings hat Ihnen am meisten geholfen?
Frau Weber hat uns dabei geholfen, Grenzen und sogenannte Pfeiler zu setzen. Diese markieren den Bereich, in dem wir uns bis zum Zeitpunkt des Vorfalls sicher fühlten. Diese Denkweise können wir mittlerweile gut in unser tägliches Leben integrieren: Immer, wenn wir in Situationen geraten, in denen wir uns überfordert fühlen, an Grenzen stossen oder in Konfliktsituationen geraten, stellen wir uns bildlich vor, wie wir diese Pfeiler setzen. Das ermöglicht es uns, uns aus einer Situation herauszunehmen und zu erkennen, wann der kritische Moment kommt, in dem wir uns ohnmächtig fühlen und bis zu welchem Zeitpunkt alles in Ordnung war. Diese Methode unterstützt uns bei der Selbstreflexion und ermöglicht es uns, uns von der gefühlten Bedrohung zu lösen.

Wir sind sehr erleichtert und dankbar dafür, dass der Arbeitgeber uns unmittelbar nach dem Vorfall auf die Verfügbarkeit von Proitera hingewiesen hat und uns Beratung angeboten wurde.

Wir haben die Beratung von Frau Weber als Fachperson und Mensch sehr geschätzt und sind überzeugt, dass sie einen wichtigen Beitrag zu unserem vollständigen «Gesundwerden» geleistet hat. Im Gespräch mit ihr konnten wir uns öffnen, unseren Emotionen freien Lauf lassen und der Schockstarre entkommen. Da es uns nicht möglich war zu reisen, war Frau Webers Bereitschaft, für die Beratung nach Langenthal zu kommen, eine sehr grosse Erleichterung für uns.

Fragen an Marianne Weber, Beraterin und Sozialarbeiterin bei Proitera

Welches war die grösste Hürde für das Ehepaar P. bei der Verarbeitung des Ereignisses und wie konnten sie diese überwinden?
Die fehlende Mobilität war für Herr und Frau P. nach dem Unfall die grösste Hürde. Sie waren deshalb sehr froh, dass Proitera das Debriefing bei der Proitera Beratungsstelle an ihrem Wohnort durchführen konnte.

Dazu kommt: Das Unfallereignis ist in der Firma bekannt. Die Arbeitskolleginnen und -kollegen hatten Kenntnisse über die Nachwirkungen des Schockereignisses des langjährigen Mitarbeiters, Herr P. Das Verständnis und die Anteilnahme des Arbeitgebers und der Kollegen waren sehr gross. Der offene und transparente Umgang mit der Situation hat sicher dabei geholfen, dass Herr P. rasch wieder in den Alltag zurückgefunden hat und seine Arbeit im herkömmlichen Rahmen wieder aufnehmen konnte.

Marianne, was empfiehlst du Vorgesetzten beim Umgang mit Mitarbeitenden, die Ähnliches erlebt haben?
Es gibt Ereignisse, die für Menschen einschneidend sind und die der Körper nicht verarbeiten kann. Deshalb ist ein sensibler Umgang mit Mitarbeitenden wichtig, die von einem Trauma betroffen sein könnten. Menschen reagieren äusserst unterschiedlich auf einschneidende Erlebnisse. So kann ein von einem Berufsunfall betroffener Mitarbeiter das Ereignis ohne Folgebeschwerden wegstecken, während sein Kollege, der den Unfall gesehen hat, unter Traumafolgebeschwerden leidet. Körperliche und psychische Reaktionen wie Schmerzen, Schwitzen, Konzentrationsprobleme und Vermeidungsverhalten können unter anderem Hinweise auf verarbeitende traumatisierende Ereignisse in der Vergangenheit sein. Wichtig ist, dass man die Symptome ernst nimmt und mit dem/der Mitarbeitenden das Gespräch sucht.

Im Rahmen einer psychosozialen Notfallversorgung besteht die Möglichkeit, traumatisierende Vorfälle innerhalb von zwei bis drei Monaten zu verarbeiten. Wenn die Alltagsfunktionalitäten vorhanden sind, benötigt es in einer ersten Phase nicht sofort eine Psychotherapie. Wenn man jedoch feststellt, dass die Symptome nicht schwächer werden, ist der richtige Moment gekommen, um Fachspezialisten herbeizuziehen.

Fragen an Frau Sabine Born, Verantwortliche Personalwesen bei Fritz Born AG

Wo sehen Sie den grössten Mehrwert der Beratungen durch Proitera für Ihr Unternehmen?
Das Wohlergehen unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ist uns sehr wichtig. Viele Aspekte, auch aus dem persönlichen und privaten Bereich, beeinflussen die Arbeitsfähigkeit. Als Arbeitgeber stehen wir in der Pflicht unseren Mitarbeitenden Unterstützung anzubieten, wenn sie diese benötigen. Dank Proitera haben unsere Mitarbeitenden eine professionelle, neutrale und anonyme Anlaufstelle, an die sie sich wenden können, wenn sie Probleme haben. Es freut uns, dass Herr P. und seine Ehefrau mit Unterstützung von Proitera die Möglichkeit hatten, diesen einschneidenden Unfall zu verarbeiten, zur Ruhe zu kommen und zurück zur Normalität zu finden. Es war schön zu sehen, dass mit wenig Aufwand so viel Positives möglich ist. Wir würden Proitera jederzeit wieder engagieren.

Anlaufstelle nach einem belastenden Erlebnis

Ein Debriefing ist Erste Hilfe für die Seele. Wir bieten Debriefings für Einzelpersonen und Gruppen an. Die Intervention findet in der Zeit der akuten traumatischen Reaktion statt, bevor psychische und körperliche Spätfolgen auftreten. Der ideale Zeitpunkt für ein Debriefing ist drei Tage bis sechs Wochen nach einem Schockerlebnis und dauert zwei bis drei Stunden. Nach sechs bis acht Wochen findet eine Nachbesprechung statt.


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